Christchurch-Attentäter gesteht - Hinterbliebene erleichtert (2024)

Schuldspruch für Christchurch-Attentäter"Vor Freude getanzt"

Überraschend hat sich der Christchurch-Attentäter vor Gericht schuldig bekannt. Den Hinterbliebenen bleibt ein aufreibender Prozess erspart - und bei der Verkündung der Strafe sollen sie dabei sein können.

VonAnke Richter, Christchurch

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Am ersten Morgen des Lockdowns in Neuseeland stand das öffentliche Leben komplett still. Selbst solitäres Wellenreiten ist wegen der Corona-Gefahr vorerst untersagt. In einem Saal des Hohen Gerichts in Christchurch wurde jedoch verhandelt - und so kam es zu einer überraschenden Wende: Brenton Tarrant, der vor einem Jahr in zwei Moscheen 51 Menschen umbrachte und Dutzende verletzte, bekannte sich, aus dem Gefängnis zugeschaltet per Video, in allen Anklagepunkten schuldig.Der 29-Jährige ist nun ein verurteilter Terrorist, über das Strafmaß wird später entschieden werden.

Tarrant, ein Australier, hatte unauffällig in Neuseeland gelebt. Er war mit rechtsextremen Netzwerken im Internet verbunden und reiste zu seinen Kontakten rund um die Welt. In Neuseeland kaufte er sich seine Sturmgewehre und übte regelmäßig auf einem Schießplatz. Am 15. März 2019 erschoss er zunächst während des Freitagsgebets in der Al-Noor-Moschee 42 Menschen und filmte die Tat für einen Livestream, dann tötete er in der Linwood-Moschee sieben Menschen, ehe er überwältigt wurde.

Ein Opfer starb im Krankenhaus, ein weiteres 48 Tage später. Der jüngste Tote war ein dreijähriger Junge aus Somalia. Etliche Angeschossene sind schwerbehindert und traumatisiert, die muslimische Gemeinde ist seit Monaten im Ausnahmezustand, die Zukunft vieler Familien ungewiss. Dass der Attentäter bisher "nicht schuldig" plädierte, verstärkte ihren Schmerz.

Der Attentäter sitzt seit einem Jahr in Auckland in Untersuchungshaft, der Prozess war eigentlich für Juni in Christchurch angesetzt. Als am Dienstag eine weitere von vielen Anhörungen angekündigt wurde, ahnten wohl nur wenige, um was es diesmal gehen würde. Wegen der strikten Covid-19-Bestimmung waren nur sechs Journalisten und die beiden Imame Christchurchs als Vertreter der Opfer zugelassen. Bei der Sicherheitskontrolle am Eingang wurden Gesichtsmasken getragen.

Vier Minuten lang wurden alle Namen der 51 Ermordeten vorgelesen. Dann wurde der zugeschaltete Tarrant gefragt, ob er schuldig oder unschuldig sei. Statt wie bisher zu reagieren, als ob alles nur ein einziger Witz sei, hob er seine Hand und sagte: "Oh okay, yes guilty." Nach weiteren zwei Minuten war das einjährige Schauspiel damit vorbei.

Imam Gamal Fouda von der Al-Noor-Moschee weinte. Sein Glaubensbruder Imam Alabi Lateef schaute gen Himmel. Umarmen durften die Geistlichen sich wegen der verordneten sozialen Distanz nicht. "Ich bin erleichtert, dass wir keinen langen Prozess durchstehen müssen", sagte Fouda dem "New Zealand Herald". "Vielen der Opfer graute es davor, das Trauma noch mal durchleben zu müssen."

Einer von ihnen ist Mustafa Boztas. Der 22-jährige Student aus der Türkei erlitt bei dem Anschlag einen Schuss ins Bein. Er stellte sich tot, entkam dann durch ein Fenster und drückte auf der Flucht aus der Moschee die Augen eines sterbenden Teenagers zu.

Seit Monaten hatte sich Boztas innerlich auf den Prozess vorbereitet. Gerade ist er in der Türkei - für eine dreimonatige Reise, die er sich und seiner Familie vor dem Prozessbeginn gönnen wollte.

"Das Urteil kann das Leid nicht ungeschehen machen", sagte Boztas dem SPIEGEL von dort, "aber ich hoffe, dass es Frieden bringt und Liebe den Hass besiegt." Es sei für viele noch immer ein "langer Weg zur Genesung". Boztas hat seine Studienpläne an den Nagel gehängt und will seit dem Attentat lieber Polizist werden.

"Vor Freude getanzt"

Die Bankangestellte Aya al-Umari, 33, verlor ihren Bruder Hussein. Dem SPIEGEL sagte sie nach dem Urteil: "Meine Mutter hat vor Freude im Wohnzimmer getanzt." Gleichzeitig aber habe sie "gemischte Gefühle" wegen der unerwarteten Entwicklung. Dass den Opfern nicht die Möglichkeit gegeben wurde, der Anhörung digital zu folgen, stieß ihr auf. Trotz eines einstündigen Nachrichtenembargos, das der Richter extra verhängte, damit Betroffene informiert werden können, erfuhren viele erst später durch die Nachrichten von der Wende. "Viele sehen das als Bestätigung dafür, dass ihre Gefühle der Regierung letztendlich egal sind", sagte ein Anwalt der Opfer anonym.

Wie der "New Zealand Herald" berichtet, begründete das Gericht die Entscheidung, dass die Angehörigen vorab nicht informiert wurden, mit gesetzlichen Vorgaben in einem solchen Fall, in dem ein Angeklagter ein Schuldbekenntnis vorab andeutet, aber noch nicht geäußert hat.

Premierministerin Jacinda Ardern sagte, es sei enttäuschend, dass die Opfer wegen der Pandemie nicht vor Gericht sein konnten. Sie habe einen Stoßseufzer der Erleichterung über das Urteil von sich gegeben, auch wenn "nichts deren geliebte Menschen zurückbringen kann". Den Namen des Attentäters wolle sie nach wie vor nicht aussprechen.

Bis das Strafmaß festgesetzt wird, können noch Monate vergehen, damit alle Zeugen und Betroffenen anwesend sein können. Laut Kriminalwissenschaftler Jarrod Gilbert von der Universität Canterbury könnte es nicht nur das erste "Lebenslänglich" in Neuseeland ohne eine Möglichkeit der Begnadigung geben, sondern auch eine Abschiebung nach Australien.

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Author: Lidia Grady

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