Patienten abbügeln
Wenn in der Praxis ein gesundheitliches Problem vom behandelnden Arzt oder der Ärztin schnöde heruntergespielt wird, spricht man von Medical Gaslighting. Zu welchen Problemen das führen kann.
Von Elena Zelle-Möhlmann (Medizinjournalistin) • Wissenschaftliche Prüfung: Dr. Andreas Baum (Internist),

Gaslighting wird in der Psychologie schon länger als Begriff für eine Form der psychischen Manipulation verwendet. Gezieltes Lügen und Verdrehen der Tatsachen sind Strategien von Gaslighting. Der Begriff wird häufig in Zusammenhang mit Partnerschaft, Freundschaft oder auch im Job verwendet. Die Erweiterung des Begriffs zum Medical Gaslighting bezieht sich auf das Verhalten von Arzt oder Ärztin gegenüber dem Patienten oder der Patientin. In den letzten Jahren fand der Begriff Medical Gaslighting zunehmend seinen Weg in die sozialen Netzwerke, Medien und Fachmagazine.
Was ist Medical Gaslighting?
„Wenn Ärztinnen, Ärzte oder medizinisches Personal Krankheiten ohne angemessene Untersuchung leugnen, Symptome herunterspielen oder abtun, wird das als Medical Gaslighting bezeichnet“, erklärt Anke Glaßmeyer. Sie ist Psychotherapeutin in Ibbenbüren und hat in ihrer Praxis öfter mit dem Thema zu tun. Beschwerden von Betroffenen würden nicht ernst genommen und zum Beispiel auf Stress, die Periode, die Psyche, das Alter oder Übergewicht geschoben.
Wichtig: Anders als beim generellen Gaslighting, also der bewussten psychischen Manipulation, ist Medical Gaslighting in aller Regel unbeabsichtigt. Hier ist der Begriff irreführend und unterstellt eine manipulierende Absicht, die nicht gewährleistet ist.
Medical Gaslighting ist auch kein Begriff, der auf alle schlechten Erfahrungen mit der Medizin anzuwenden ist. Es handelt sich nicht um bloßes aneinander Vorbeireden zwischen Patient und Arzt. Außerdem gibt es durchaus Forderungen von Seiten der Patientinnen und Patienten, die der behandelnde Arzt schlichtweg nicht erfüllen kann. Was mit dem Begriff Medical Gaslighting angeklagt wird, ist das Abbügeln von Sorgen und Symptomen ohne angemessene medizinische Beurteilung.
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Welche Gründe gibt es für Medical Gaslighting?
Anke Glaßmeyer sieht vor allem Zeitmangel als mögliche Ursache und erklärt: „Unser Gesundheitssystem sieht pro Fall ein gewisses Zeitkontingent vor und bezahlt Behandlungen auch dementsprechend. Wer Patientinnen und Patienten länger behandelt, bekommt dafür kein Geld.“ Außerdem, führt sie einen weiteren möglichen Grund für Medical Gaslighting an, sei Kommunikation mit Patientinnen und Patienten kein großer Bestandteil der ärztlichen Ausbildung – und manche können es schlicht nicht besser.
Ein weiterer Grund: tief verwurzelte Vorurteile. Es kann aber auch schlicht Unwissenheit und Überforderung dahinterstecken. Und manch eine Ärztin oder ein Arzt wird wohl auch durch Überheblichkeit zum Gaslighter oder zur Gaslighterin: In der festen Überzeugung, sie wüssten es besser, bleiben Anliegen von Patientinnen und Patienten ungehört, Symptome unberücksichtigt.
„In Ihrem Alter hat man nichts“ – Protokoll einer Betroffenen
Katrin, 39 Jahre alt, kämpft schon ihr Leben lang mit Schlafstörungen. Vor rund zehn Jahren war es besonders schlimm. Sie war in eine neue Stadt gezogen, hatte den Job gewechselt und sich von ihrem Partner getrennt. Monatelang schlief sie höchstens zwei Stunden am Stück, lag nachts wach und hatte Panik. Zusätzlich litt Katrin an Depressionen. Also machte sie einen Termin bei einer Psychiaterin, schilderte ihr Leid. Die Reaktion der Ärztin: In Katrins Alter (damals Ende 20) habe man nichts. Sie solle mehr Sport machen. Katrin verlies stark verunsichert die Praxis. Erst drei Jahre später riskierte sie einen neuen Anlauf, weil sie ihre Beschwerden nicht länger ertragen konnte. Diesmal wurde sie ernst genommen. Die behandelnden Ärztinnen erklärten Katrin, sie leide seit vielen Jahren an einer wiederkehrenden Depression, gepaart mit Angststörungen. Dank Psychotherapie und medikamentöser Therapie ist Katrins Gesundheitszustand heute stabil.
Wer ist vor allem von Medical Gaslighting betroffen?
Grundsätzlich kann jedes körperliche Problem Auslöser für Medical Gaslighting sein. Doch je unklarer die Symptome, desto häufiger berichten Patientinnen und Patienten davon, abgekanzelt worden zu sein. Das können zum Beispiel unspezifische Schmerzen sein oder Erschöpfungszustände.
Die Wahrscheinlichkeit, von Medical Gaslighting betroffen zu sein, hängt nicht nur von der Erkrankung ab. Es gibt noch andere Faktoren, die das Risiko erhöhen: Frauen, ältere Menschen, ethnische Minderheiten, Patientinnen und Patienten mit psychischen Erkrankungen sowie Menschen der LGBTIQ+-Community kann es eher betreffen. Wie viele Menschen und welche Gruppen in Deutschland genau Medical Gaslighting erfahren, lässt sich nicht sagen: Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat zwar zur Diskriminierung im Gesundheitswesen geforscht und festgestellt, dass es das Problem durchaus gibt. Es fehle aber besonders hierzulande an Studien.
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Was sind mögliche Folgen des Medical Gaslighting?
Wenn ein Arzt Symptome nicht ernst nimmt, kann es dazu kommen, dass falsche oder zu späte Diagnosen gestellt werden. Psychotherapeutin Anke Glaßmeyer ist überzeugt: „Viele Erkrankungen könnten viel eher erkannt werden.“ Medical Gaslighting verzögert somit auch die richtige Behandlung. Das bedeutet für Patientinnen und Patienten mindestens einen großen Leidensdruck und kann auch gefährlich für die Gesundheit werden.
Nicht alle Patientinnen und Patienten bleiben dran, wenn sie abgewiesen werden: Bei manchen liegt es an ihrer Erkrankung: Für einen Menschen mit Depressionen zum Beispiel ist es in der Regel sehr schwierig, einen Termin in einer Arztpraxis auszumachen. Wenn dieser Mensch dort abgekanzelt wird, wird er wahrscheinlich nicht direkt den nächsten Anlauf starten. Andere entwickeln durch das Medical Gaslighting Selbstzweifel. Sie denken, dass sie sich ihre Beschwerden nur einbilden. Manche bekommen durch das Medical Gaslighting Angst vor Ärztinnen und Ärzten und lassen dadurch künftig eventuell auch andere wichtige Vorsorgeuntersuchungen sausen.
Wie können Betroffene sich verhalten und wo finden sie Hilfe?
Meist ist man als Betroffene oder Betroffener erstmal perplex: Da hofft man auf Hilfe und wird dann einfach rüde infrage gestellt. Wer kann, sollte seine Empfindungen zum Ausdruck bringen: „Ich fühle mich nicht ernst genommen.“ Oder auch nachfragen, wie die Ärztin oder der Arzt ohne eingehende Untersuchung zu diesem Schluss kommt.
Hilft das nichts, sollte man sich eine zweite Meinung in einer anderen Praxis einholen, rät Anke Glaßmeyer. Sie empfiehlt außerdem: „Symptome in einem Tagebuch dokumentieren, sich selbst informieren und eine Begleitperson mitnehmen.“ Die andere Person kann einspringen, wenn man selbst ein Anliegen vergisst oder es einem die Sprache verschlägt.
Wo Sie Unterstützung bekommen
Hilfe finden Betroffene bei der Unabhängigen Patientenberatung (UPD). Diese berät Patientinnen und Patienten kostenlos. Über eine Ärztin oder einen Arzt beschweren kann man sich bei den Kassenärztlichen Vereinigungen der Länder.
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